Luigi Pericle – Ein wiederentdeckter Meister zwischen Kunst, Mystik und innerer Forschung

Luigi Pericle Giovannetti (1916–2001) war eine der faszinierendsten und zugleich rätselhaftesten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Geboren in Basel, schweizerisch-italienischer Herkunft, entwickelte er schon früh ein ausgeprägtes Interesse für Zeichnung, Literatur, Philosophie und die großen spirituellen Traditionen der Welt. Seine künstlerische Laufbahn begann zunächst im Bereich der Illustration: In den 1950er Jahren erlangte er internationale Bekanntheit mit den humoristischen Zeichnungen der Figur Max the Marmot, die in über 150 Zeitungen weltweit erschienen. Doch dieser frühe Erfolg war für Pericle nur eine Randepisode – ein äußerer Erfolg, hinter dem ein weit tieferes inneres Streben verborgen lag.

Bereits Ende der 1950er Jahre vollzog Pericle eine radikale Kehrtwende: Er wendete sich von der kommerziellen Illustration ab und begann ein intensives Studium der spirituellen Philosophien. Theosophie, Anthroposophie, Buddhismus, Daoismus, Yoga, Kabbala und hermetische Traditionen prägten sein Denken. Diese umfassende geistige Öffnung veränderte nicht nur sein Leben, sondern auch seine Kunst vollständig. Aus dieser inneren Transformation heraus entstand ein Werk, das in den 1960er Jahren die Aufmerksamkeit bedeutender Persönlichkeiten auf sich zog – darunter der legendäre Kunsthändler Siegfried Rosenthal, der Berliner Galerist Günther Franken, sowie insbesondere der britische Kunstkritiker Sir Herbert Read, Mitherausgeber von The Burlington Magazine und maßgebliche Stimme der Moderne.

Zwischen 1962 und 1965 folgten Ausstellungen in führenden Institutionen, darunter die Marlborough Fine Art Gallery in London, zu jener Zeit eine der einflussreichsten Plattformen für internationale Avantgarde. Pericles Werk wurde damals in den Kontext der abstrakten Postwar-Malerei gestellt, doch gleichzeitig zeigte es etwas Ungewöhnliches: eine stille, meditative Tiefe, die über die reine Formensprache hinauswies. Seine Leinwände und Zeichnungen waren weder informell noch streng geometrisch, sondern oszillierten zwischen kosmischer Vision, innerer Landschaft und energetischer Strahlkraft. Bereits damals wurde erkannt, dass seine Formenwelt eine Art „visuelle Meditation“ darstellte – eine Kartographie der inneren Welt.

Doch im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen suchte Pericle nicht die Öffentlichkeit, sondern die Einsamkeit. Mitte der 1960er Jahre zog er sich nach Ascona, in die mythenumwobene Region des Monte Verità, zurück – ein Ort, der für spirituelle Sucher, Künstler, Theosophen und Esoteriker seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine magische Anziehungskraft besitzt. Hier lebte er über drei Jahrzehnte in intensiver Stille und arbeitete unermüdlich an seinen Bildern, Manuskripten, astrologischen Karten, Diagrammen, Tagebüchern und spirituellen Studien. Er führte ein Leben, das dem eines modernen Einsiedlers glich, angetrieben von der Idee einer inneren Transmutation, einer schöpferischen Alchemie des Bewusstseins.

Nach seinem Tod im Jahr 2001 geriet Pericle – wie so viele visionäre Außenseiter – beinahe vollständig in Vergessenheit. Erst 2016, bei der Sichtung seines Hauses in Ascona, wurde sein immenses Archiv entdeckt: über 4.000 Zeichnungen, Hunderte von Gemälden, großformatige Tintenarbeiten, astrologische und esoterische Manuskripte, sowie eine außergewöhnliche Bibliothek von mehr als 2.500 Büchern aus den Bereichen Esoterik, Mystik, Medizin, Kunst, Mythologie und Wissenschaft. Dieser Fund war gewaltig – und er wurde zum Ausgangspunkt einer internationalen Wiederentdeckung.

Seit 2018 hat das Archivio Luigi Pericle in Ascona, unter der Leitung der Familie Biasca-Caroni, eine systematische Rekonstruktion von Leben und Werk des Künstlers begonnen. Die ersten Präsentationen lösten rasch Aufmerksamkeit aus: 2019 zeigte die Fondazione Querini Stampalia in Venedig eine große Ausstellung, kuratiert von Chiara Gatti, die Pericle als „verlorenen Meister der kosmischen Moderne“ vorstellte. Es folgten Ausstellungen im MASI Lugano (Museo d’arte della Svizzera italiana), in Paris, Rome, London, Mulhouse und anderen europäischen Städten. Wissenschaftliche Artikel, Kataloge und kritische Essays vertieften zunehmend die Bedeutung eines Werks, das eine einzigartige Verbindung schafft zwischen moderner Malerei, esoterischer Philosophie und innerer Forschung.

Die Kritik betont heute vor allem drei Aspekte:
Erstens die außergewöhnliche Qualität seiner Tinten- und Mischtechniken, die mit Atemtechniken, meditativen Rhythmen und kontrollierten Gesten verbunden sind.
Zweitens die ikonografische Dichte seines Werks, das als visuelles Tagebuch eines Suchers gelesen werden kann – voller archetypischer Symbole, Sternenkarten, energetischer Ströme und kosmischer Strukturen.
Drittens die Aktualität seines Denkens: Pericle antizipierte viele Themen, die heute im Zentrum interdisziplinärer Forschung stehen, von Bewusstseinsstudien über ökologische Spiritualität bis hin zur Verbindung von Kunst und quantenphilosophischem Denken.

Seine Wiederentdeckung ist nicht nur eine kunsthistorische Korrektur, sondern auch ein kulturelles Ereignis: Luigi Pericle erscheint heute als Grenzgänger, als Mittler zwischen Kunst und Esoterik, zwischen Moderne und uralten Traditionen. Sein Werk fordert dazu auf, Kunst nicht nur als ästhetisches Objekt, sondern als Instrument innerer Wandlung zu betrachten – als „Kosmogramm“, das den Blick nach innen lenkt und gleichzeitig in die Weite des Universums öffnet.

In einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Wissenschaft, Spiritualität und Kunst neu gedacht werden, gewinnt Luigi Pericle eine unerwartete Aktualität. Die internationale Forschung beginnt erst jetzt zu erkennen, wie tief und visionär dieser Künstler war – ein singulärer Geist, dessen Werk nicht nur wiederentdeckt, sondern neu gelesen und verstanden werden will. Ascona, der Monte Verità und die neuen Ausstellungen haben ihm die Bühne zurückgegeben, die er verdient: die eines der bedeutendsten spirituellen Künstler des 20. Jahrhunderts.

MASI 2021, Luigi Pericle, Ad Astra

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